Die biographische Methode in der Regionalgeschichte

Die biographische Methode in der Regionalgeschichte

Organisatoren
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2009 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Pablo Holwitt / Marina Kramm, Münster

Am 25. September 2009 fand in Münster der Workshop „Die biographische Methode in der Regionalgeschichte“ statt, der vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte ausgerichtet wurde. Im Fokus des Workshops standen nicht nur Überlegungen zur biographischen Methode in der Regionalgeschichte, sondern auch Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Biographik und Institution, Raum oder Generation. Weiterhin wurde die biographische Geschichtsschreibung des „kleinen Mannes“ und die Rolle der „gender“-Forschung thematisiert. Hierzu stellten sechs Referenten ihre Beiträge vor.

Im ersten Beitrag des Workshops referierte THOMAS SPECKMANN (Düsseldorf) über besondere Möglichkeiten und Probleme einer biographischen Analyse der sogenannten „kleinen Leute“. Anhand seiner biographischen Studie über den ehemaligen Vorsitzenden der thüringischen CDUD Hugo Dornhofer erläuterte er, welche Erkenntnisse aus einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung von historischen Persönlichkeiten, deren Wirkmächtigkeit auf den ersten Blick gering erscheint, erwachsen können und wie diese einen Beitrag zu einem besseren Verständnis historischer Erfahrung liefern können. Speckmann bezog sich hierbei auf Hagen Schulze, der 1978 auf die Gefahr hinwies, allein historisch herausragende Figuren zum Gegenstand biographischer Untersuchungen zu machen.1 Vielmehr gelte es, die Lebensläufe durchschnittlicher Persönlichkeiten zu untersuchen, um ein vollständigeres Bild historischer Prozesse zu erlangen. Bei der Erläuterung seiner Arbeitsweise unterschied Speckmann zwei methodische Zugriffe: Zunächst widmete er sich der Frage, wie Dornhofer zeitgeschichtliche Ereignisse in seinen Tagebüchern darstellte und verglich diese Befunde mit biographischen Zeugnissen von Zeitgenossen Dornhofers. Anschließend untersuchte er die Aussagen Dornhofers im Lichte weiterer Quellen, die eine Relativierung gewisser Aussagen Dornhofers ermöglichten. Dabei unterstrich Speckmann die Bedeutung alltäglicher persönlicher Erfahrungen, die zwar in biographischen Quellen selten reflektiert würden, jedoch oftmals Einfluss auf wichtige Entscheidungen hätten. Gleichzeitig räumte er ein, dass es problematisch sei, diese Faktoren mit der gängigen Methodik biographischer Untersuchungen zu greifen. Am Beispiel von Dornhofer erläuterte er den prägenden Einfluß von Raum und Milieu auf den Einzelnen und seine Biographie: Dornhofers Werdegang sei ohne Berücksichtigung seiner Herkunft aus dem katholisch geprägten Eichsfeld nicht zu verstehen.

In dem Vortrag ‚Schauplätze des Lebens’ befasste sich EWALD FRIE (Tübingen) mit dem Zusammenhang der Begriffe Räume – Menschen – Biographik – Regionalgeschichte. Hierzu gliederte er seine Ausführungen in drei Abschnitte, die unter den Überschriften ´Menschen prägen Räume´, ´Menschen definieren Räume´, ´Räume definieren Menschen´ und ´Räume prägen Menschen´ den Zusammenhang zwischen den Teilgebieten aufzeigen sollten. Im zweiten Teil seines Referats ergänzte Frie diese Überschriften um den Faktor Biographik und warf die Frage auf, ob die Biographik die Fragen, die das Verhältnis von Menschen und Räumen aufwerfe, adäquat abbilde. Er machte hierbei vor allem auf das Problem der Wandelbarkeit von Räumen aufmerksam, die immer menschlich produziert, gedeutet und ausgehandelt seien. Auch Räume, so Frie, könnten demnach eine ´Biographie´ haben. Im dritten und abschließenden Gliederungspunkt ging Frie darauf ein, welche Konsequenzen das Problem der Verhältnisbestimmung von Mensch und Raum für die Regionalgeschichte hat. Der biographische Ansatz schien ihm besonders geeignet zu sein, einen neuen und frischen Blick auf die Raumkonstruktion insbesondere des 19. Jahrhunderts zu werfen. Dieser Zugriff führte dazu, dass die dominierenden politisch-administrativen und hochkulturellen Raumkonstruktionen abgeblendet würden mit dem Ergebnis einer radikalen Historisierung von Räumen. Diese fließenden Gebilde zwischen politischen Grenzen und kulturellen Raumkonstruktionen seien von den Menschen über einen langen Zeitraum als Einheit begriffen und geprägt worden. Auf der Basis dieser Raumdefinition müsse die Regionalgeschichte neu gefordert und auf neue Wege geführt werden.

JULIA PAULUS (Münster) stellte in ihrem Referat zum Thema ´Biographie und Geschlecht´ ihr laufendes Forschungsprojekt zu Parlamentarierinnen in Westfalen und dem Rheinland vor. Im ersten Teil des Vortrages zeigte sie auf, dass ´berühmte´ Frauen gegenüber ´berühmten´ Männern in den traditionellen Lexika bisher vernachlässigt wurden. Mit der Einführung der Kategorie ´gender´ sei ´Geschlecht´ analog zu den Kategorien Ethnie und Schicht beziehungsweise Klasse als ein wesentliches Strukturmerkmal einer Gesellschaft etabliert worden. Hierbei sei Geschlecht nicht mehr als eine statische Kategorie, sondern als Variable, als ´doing gender´, welches zwischen gesellschaftlicher Zuweisung und persönlicher Aneignung steht, betrachtet worden. Somit gerate auch die Biographik aufgrund der Vernachlässigung von Frauen in die Kritik und müsse neu nach dem Modell des autonomen Subjektes überarbeitet werden, so Paulus. Hierauf aufbauend erläuterte sie das Projekt ´Parlamentarierinnen in Westfalen´. Dieses befasst sich mit der Frage, inwieweit die Zuschreibung „Frau“ in Bezug auf die soziale Praxis von weiblichen Politikerinnen Bedeutung erlangte sowie mit der Frage nach der Wahrnehmung gesellschaftlich sanktionierter Rollenmuster und wie sich Frauen dazu verhielten. Das angestrebte Projekt versucht darzulegen, dass die politische Partizipation der Frau als umfassendes Engagement zu verstehen ist und nicht nur als ein eingeschränktes, auf soziale und kulturelle Belange bezogenes, politisches Interesse. Unter dieser Prämisse soll insbesondere dem Selbstverständnis, dem Politisierungsprozess, den politischen Strategien, den (geschlechts-)spezifischen Zugangs- und Handlungsmöglichkeiten sowie dem Umgang mit Macht von Frauen in einer von Männern dominierten politischen Struktur nachgegangen werden. Damit stehen die Fragen nach den Karrieremöglichkeiten von Parlamentarierinnen, Politikerinnen und Lobbyistinnen im Zentrum des Forschungsprojektes.

MARCUS WEIDNER (Münster) stellte in seinem Vortrag das neue zukünftige Modul „Westfälische Biografie Online (WBO) innerhalb des Internet-Portals „Westfälische Geschichte“ 2 vor, welches in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern in den nächsten Jahren realisiert werden soll. Das Ziel des Projektes ist die Erarbeitung eines umfassenden, thematisch vielseitigen, online verfügbaren biographischen Lexikons zur Geschichte Westfalen-Lippes. Weidner führte aus, dass aufgrund der besonderen Bedeutung der Biographik für die historische Forschung die Integration online verfügbarer Kurzbiographien das bisherige Angebot des Internet-Portals sinnvoll ergänzen würde. In der Forschung gehe es nicht mehr nur um die „Großen Männer“ der Geschichte, sondern auch individuelle, sozial- und strukturgeschichtliche Fragestellungen würden in biographische Überlegungen einfließen. Der Mensch werde in das Umfeld einer sozialen Gruppe und historischen Lebenswelt integriert gesehen. Die Einbindung der WBO in das Internetportal ´Westfälische Geschichte´ garantiere eine einheitliche Struktur in Bezug auf Inhalt und Ausgestaltung, zum anderen den leichten und unbeschränkten Zugang jenseits von Anfahrtswegen oder Fernleihen, so Weidner. Mit der WBO werde ein modernes Personen-Lexikon für Westfalen-Lippe geschaffen, das durch die Nutzung neuer internetgestützter Informationstechnologien zukunftsfähig sei.

Zum Thema Autobiographie und Generation referierte VOLKER DEPKAT (Regensburg). Den scheinbaren Gegensatz der Begriffe Autobiographie und Generation löste er auf, indem er Autobiographien als „kollektive Texte“ und „Akte sozialer Kommunikation“ definierte. Eine Autobiographie sei demnach nie nur auf den Schreibenden allein ausgerichtet, sondern enthalte immer auch kollektive Bezüge. Dies trete beispielsweise zutage, wenn der Autobiograph sein Leben als typisch für eine bestimmte soziale Gruppe, Region, Berufsgruppe, politische Bewegung oder eben Generation auffasst und beschreibt. Über die Autobiographie, so Depkat, könnten auch verschiedene Dimensionen des Begriffs Generation untersucht werden. Er sprach hier von drei Polen des Begriffs Generation: Erstens Generation als objektive, nach Alterskohorten geordnete soziale Formation, die durch eine altersgruppenspezifische Schichtung von Erfahrungen definierbar ist. Zweitens Generation als Diskursphänomen interessegeleiteter Selbst- und Fremdthematisierung im sozialen Kontext und drittens Generation als privates, sich in Abstammung, Genealogie und Generativität von Familien manifestierendes Phänomen. Als erfolgversprechendsten Ansatz betrachtet Depkat die Analyse von „Generation“ als Selbst- und Fremdthematisierungsformel im Kontext sozialer Selbstbeschreibungsprozesse. Die Autobiographie kann ein Medium dieser generationellen Selbstthematisierung sein, muss aber immer in ihrem jeweiligen historischen Kontext betrachtet werden. Dies brachte Depkat auf die Formel, dass das „Was“ der autobiographischen Kommunikation stets durch das „Wie“ und „Warum“ bestimmt sei. Jedoch seien generationelle Selbst- und Fremdzuschreibungen stets wandelbar und könnten durch Zäsurerfahrungen beeinflusst und verändert werden. Depkat wies darauf hin, dass Generation nur eine von mehreren möglichen Kategorien der autobiographischen Selbstkollektivierung sei; weitere Kategorien seien beispielsweise Klasse, Beruf, Schicksal oder Region.

CHRISTINE MÜLLER-BOTSCH (Berlin) bereicherte den Workshop mit einem Referat zum Thema Biographie und Institution. Sie legte anknüpfend an ihre Dissertation über untere NS-Funktionäre von 1933 bis 1945 ihren methodischen Zugriff zur Auswertung biographischer Selbstzeugnisse dar. Ihre Methode speist sich sowohl aus geschichtswissenschaftlicher Quellenanalyse als auch aus sozialwissenschaftlicher Biographieanalyse: Ausgehend von der Rekonstruktion der spezifischen Entstehungskontexte bestimmter Ego-Dokumente werden diese zunächst getrennt voneinander analysiert und dann miteinander kontrastiert. Solche biographischen Fallrekonstruktionen können eine Grundlage für Typenbildungen bei spezifischen Forschungsfragen bilden, so Müller-Botsch. Das Verhältnis von Biographie und Institution lasse sich laut Müller-Botsch anhand dieser biographischen Fallrekonstruktionen und daraus formulierten theoretischen Verallgemeinerungen herausarbeiten. Hierbei trete ein Wechselverhältnis zwischen Mensch und Institution zutage: Durch die Auswertung biographischer Zeugnisse könne der Einfluss von Menschen auf Entwicklung, Wandel und Praxis von Institutionen mit Rücksicht auf ihre biographische Handlungsorientierung untersucht werden. Ebenso lasse sich nachvollziehen, wie institutionelle Vorgaben Selbstsicht und Handlungsweisen der Akteure beeinflussen. In diesem Zusammenhang machte Müller-Botsch darauf aufmerksam, dass sich die Biographieforschung auch als sinnvolle Ergänzung zur Institutionen- und Organisationsforschung anbiete.

In den Diskussionsrunden wurden vor allem Fragen zum Verhältnis von Raum und Region zum Individuum, zur Methodik biographischer Studien, zu den Zielen der genannten Forschungsprojekte und dem speziellen Nutzen biographischer Studien für die Regionalgeschichte aufgeworfen und diskutiert. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Ergebnisse regionalgeschichtlicher Forschung eine wichtige Folie für biographische Studien darstellen: So könnten mit regionalgeschichtlichen Befunden operierende Kollektivbiografien erarbeitet werden, um auf diese Weise regionale Vergleiche zu ermöglichen. Die Referate des Workshops werden in einem Sammelband zusammengefasst, der im nächsten Jahr in der Reihe „Forum Regionalgeschichte“ des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte veröffentlicht wird.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Moderation
Prof. Dr. Bernd Walter (Münster)

Einführung
Martin Dröge (Münster)

Thomas Speckmann (Düsseldorf)
Die Welt als Wille und Vorstellung.
Chancen und Probleme einer biografischen Geschichtsschreibung des „kleinen Mannes“

Ewald Frie (Tübingen)
Schauplätze des Lebens

Julia Paulus (Münster)
Biographie und Geschlecht

Marcus Weidner (Münster)
Die „Westfälische Biografie Online“ (WBO)

Volker Depkat (Regensburg)
Autobiographie und Generation

Christine Müller-Botsch (Berlin)
Biographie und Institution

Anmerkungen:
1 Vgl. Hagen Schulze: Die Biographie in der „Krise der Geschichtswissenschaft“, in: GWU 29 (1978), H. 8, S. 513f.
2 <http://www.westfaelische-geschichte.de> (22.12.2009).